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24 Stunden, sieben Tage die Woche Der syrische Herrscher Assad hat zum Volk gesprochen – eine Farce.

  • Aufgezeichnet von Susanne Fischer
  • Jun 24, 2011
  • 4 min read

Seit drei Monaten lebe ich jetzt auf der Flucht, jage von einem Versteck zum anderen. Mein Alltag ist völlig in der Revolution aufgegangen, als ob ich in einer Kapsel lebe, losgelöst von allem, was mein Leben sonst ausgemacht hat. Ich lese keine Bücher mehr, sehe keine Filme an, gehe nicht mehr in der Altstadt spazieren. Ich schreibe nicht einmal mehr.

Immer wieder sage ich mir: Halte inne, hole Luft – denn ich möchte mich später gern deutlich an jeden Moment erinnern, möchte genau wissen, wie ich mich in dieser Zeit gefühlt habe. Wobei ich in den vergangenen Wochen zunehmend bemerkt habe, dass ich immer weniger fühle, mir bisweilen wie betäubt vorkomme. Ich fühle keine Freude, bin weder pessimistisch noch optimistisch, ich vermisse nichts und niemanden. Ich sehe Videos von Menschen, die unter Folter gestorben sind, und könnte genauso gut auf einen leeren Schirm starren.

Ist das ein unbewusster Schutzmechanismus, damit ich trotz all des Leids und Schmerzes, die wir täglich erleben, weiter funktioniere? Ich weiß nicht, ob es gut oder schlecht ist, es ist einfach mein Leben im Moment. 24 Stunden Revolution, sieben Tage die Woche.

Zum Glück wächst die Bewegung immer weiter, und noch viel wichtiger: Es gibt erste Anzeichen dafür, dass sich die Opposition organisiert. Die lokalen Koordinierungskomitees, ein Zusammenschluss mehrerer sehr aktiver Bürger- und Aktivistengruppen in den Städten im ganzen Land, haben ihre Vision von der politischen Zukunft Syriens veröffentlicht. Intellektuelle und jahrelange Oppositionelle haben sehr positiv darauf reagiert. Auch der Nationale Rat der Damaskus-Erklärung, dessen wichtigste Mitglieder zweieinhalb Jahre lang im Gefängnis gesessen haben und zum Teil erst letzten Sommer wieder freigekommen sind, findet langsam wieder zu einer Stimme. Das ist extrem wichtig, da der Rat immer noch die wichtigste Oppositionsplattform in Syrien ist, an die viele Menschen glauben und der sie vertrauen.

Nach fast zwei Monaten der Stille hat mich endlich auch Nachricht über meinen Schwager erreicht: Er wurde der Justiz überstellt. Und ich konnte ihm nicht als Anwältin zur Seite stehen bei seiner Anhörung vor dem Richter – ich, die seit Jahren kein Verfahren politischer Gefangener ausgelassen habe, muss tatenlos in meinem Versteck verharren, wenn es um die eigene Familie geht. Wenigstens ist jetzt klar, dass er und mein Mann, von dem ich seit seiner Verhaftung vor Wochen immer noch keine Nachricht habe, sondern nur Gerüchte höre, als Geiseln an meiner statt genommen wurden.

Die Anschuldigungen gegen meinen Schwager Abdulrahman sind sehr schwerwiegend. Sie werfen ihm vor, bewaffnete ethnische Unruhen geschürt zu haben – darauf steht eine lebenslängliche Gefängnisstrafe. Der Vorwurf ist absurd, denn gleichzeitig steht in den Akten, dass sie ihn verhafteten, als sie eigentlich nach mir gesucht haben. Alle Dokumente in seiner Akte handeln von mir: Papiere, die sie mitgenommen haben, als sie in unsere Wohnung eingebrochen sind, mein gesamtes Archiv über meine Gerichtsfälle, die Dokumentationen von

Menschenrechtsverletzungen und auch viele private Fotos und Videos von meiner Familie und meinen Freunden. Insgesamt haben sie 253 CDs beschlagnahmt. Ich hoffe sehr, dass die Anschuldigungen gegen Abdulrahman nur eine Botschaft an mich sein sollen und sie ihn schließlich doch entlassen.

Dabei hat das Regime am Montag jede aufkeimende Hoffnung enttäuscht. Präsident Baschar al-Assad hat wieder gezeigt, dass er zur Einsicht nicht bereit ist und auf die Lage im Land nicht zu reagieren vermag. Er hat zu den Syrern gesprochen, es war nicht das erste Mal seit Beginn der Aufstände.

Mir kam es allerdings vor, als spräche er über ein anderes Land, ein anderes Volk und nicht über Syrien. Er sprach 75 Minuten lang , und wieder war es vor allem das Gerede von Terroristen, bewaffneten Banden und wie sehr das Volk doch den Präsidenten liebe. Assad hat nicht einmal zugegeben, dass es eine nationale Krise gibt. Oder dass die Sicherheitskräfte schwere Verbrechen gegen das syrische Volk begangen haben. Wieder hat er den Demonstranten die Schuld an allem gegeben. Aber vielleicht entpuppt sich diese Ignoranz am Ende als Vorteil für uns. Wäre das Regime nur ein bisschen klüger, wäre der Widerstand für uns sehr viel schwieriger.

Niemand wird sich mehr zufrieden geben mit ein paar kleinen Veränderungen hier und da, selbst wenn Assad anbietet, über eine neue Verfassung zu reden oder über die Abschaffung des Machtmonopols der Baath-Partei. Jahrzehntelang haben er und sein Clan uns unserer Würde und Freiheit beraubt, unsere Geduld ist am Ende. Letzte Woche war bei immer mehr Demonstrationen ein neuer Slogan zu hören. Statt »Wir wollen das Regime stürzen« riefen die Menschen: »Bewohner von Damaskus: In unserer Stadt haben wir das Regime bereits gestürzt.« Für viele ist der Sturz des Regimes keine Forderung mehr, sondern eine Tatsache, etwas Unaufhaltsames.

Da kann Assad uns Demonstranten noch so sehr als Keime beschimpfen – die Menschen lachen trotz der Gewalt, die er anwendet, darüber. Kurz nach Assads Rede gab es eine Facebook-Seite »Keime wollen das Regime stürzen«. Er mag uns demütigen – aber ernst nehmen wir ihn nicht mehr, und Vertrauen haben wir in ihn erst recht nicht. Und in einem sind sich alle Widerstandskräfte einig: kein Dialog mit den Mördern, keine Verhandlungen unter dem Eindruck von Gewalt.

Wie können wir auch mit jemandem reden, der die syrischen Flüchtlinge auffordert, zurückzukommen, wo doch jene, die den ersten Aufforderungen vor ein paar Tagen folgten, einen hohen Preis dafür bezahlt haben. Viele wurden verhaftet, einige sogar getötet. Die Menschen, die geflohen sind, haben Furchtbares erlebt: Sie berichten von Vergewaltigungen, niedergebrannten Häusern, verkohlten Leichen. In diese Hölle will so schnell keiner zurückkehren.

 
 
 

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