Und eines Tages reise ich nach Italien! Das syrische Regime schikaniert mich schon lange. Aber mein
Manchmal kann ich selbst nicht glauben,dass ich schon seit mehr als zwei Monaten versteckt lebe. Jeder Tag, an dem ich es schaffe, die Geheimdienste und ihre vielen Zuträger auszutricksen, ist mir ein kleiner Triumph. Radwan Ziyadeh, ein syrischer Dissident, der inzwischen in den USA lebt, hat einmal vorgerechnet, dass auf 153 Syrer ein Geheimdienstmitarbeiter kommt. Trotzdem schaffen es immer noch viele von uns, jenen, die doch allwissend sein wollen, zu entkommen.
Manchmal werde ich gefragt, wie ich das aushalte, diesen Ausnahmezustand, das Fehlen jeder Normalität. Aber wenn ich zurückdenke an die Zeit vor meinem Untertauchen, gibt es gar nicht so viel, das ich vermisse. Meine Familie natürlich. Meinen Mann, von dem es immer noch keine Nachricht gibt. Meine Freunde. Meine Katze.
Aber »normal« war das Leben vorher auch nicht. Ständig war ich am Gericht, um politische Gefangene gegen absurde Beschuldigungen wie »Schwächung des Nationalgefühls« oder »Verbreitung staatsgefährdender Falschinformation« zu verteidigen. Um sie dann doch für Jahre hinter Gittern verschwinden zu sehen.
Dann die vielen Stunden, die ich in irgendeinem Büro irgendeines Geheimdienstzweigs verschwenden musste. Oft stellten sie dieselben Fragen wieder und wieder, vielleicht in der Hoffnung, ich würde mir widersprechen. Oft ging es um Beziehungen zu ausländischen Organisationen. Einmal hielt mir ein Offizier einen langen Vortrag über den »bösen« Westen und darüber, dass die Gesellschaft wichtiger sei als das Individuum. Das wüssten selbst die Tiere, meinte er. Sind wir Menschen nicht in der Regel stolz darauf, weiter entwickelt zu sein als das Tierreich?, fragte ich zurück.
Eine Zeit lang hatten sie Männer vor meinem Haus postiert, die mir auf Schritt und Tritt folgten, wohin ich auch ging. In der Zeit habe ich so manchen ziellosen Spaziergang durch die Stadt unternommen, so hatten sie wenigstens ein bisschen Bewegung und ich Spaß daran, zur Abwechslung mal ihre Zeit zu verschwenden. Zu manchen Verhören nahm ich vorsichtshalber eine Zahnbürste mit, weil ich mir nicht sicher war, ob ich abends wieder nach Hause dürfte.
Nein, ich denke nicht an die Vergangenheit. Lieber träume ich von der Zukunft, von einem freien Syrien. Und davon, dass ich irgendwann einmal, wenn alles vorbei ist, nach Italien reise.
Das Regime glaubt offenbar noch immer, dass es sich retten kann, indem es einfach immer mehr Leute verhaftet und weiter auf Demonstranten schießt. Der vergangene Freitag war der beste Gegenbeweis: Fast überall gab es Proteste, und diesmal waren auch die Minderheiten dabei, Christen an vielen Orten, die Drusen in Swaida, die Ismailiten in Al-Salamia, Alawiten, Assyrer, die Kurden sowieso. Das ganze Volk. Nicht nur eine kleine Clique oder Randgruppe oder gar Terroristen, wie das Regime immer noch behauptet. Dessen Antwort aber war wieder nur noch mehr Gewalt. Wir haben noch nicht alle Namen aus allen Orten, und schon jetzt stehen mindestens achtzig Märtyrer auf der Liste. Ich fürchte, es werden noch deutlich mehr.
Viele furchtbare Geschichten kommen erst nach und nach ans Licht. Wie die von Tamam Hamza Al-Sayadi. Der Fünfjährige war mit seinen Eltern im Auto in Khalidieh, einem Stadtteil von Homs, unterwegs, als an einer Kreuzung Sicherheitskräfte ohne jede Vorwarnung das Feuer eröffneten. Der Vater legte sofort den Rückwärtsgang ein, doch da hatte Tamam bereits eine Kugel im Bauch. Er starb wenig später im Nationalkrankenhaus von Homs. Weil der Vater sich weigerte, ein Dokument zu unterschreiben, dass Terroristen sie angegriffen hätten, wurde ihm die Leiche seines Sohns nicht ausgehändigt.
Die Geschichten, die wir von denen hören, die verhaftet, gefoltert und dann wieder freigelassen wurden, kann ich nicht aufschreiben. Sie sind zu fürchterlich. Ich werde nie begreifen, wie ein Mensch so grausam zu einem anderen sein kann. Trotzdem werden die Syrer ihre Hoffnung auf Freiheit nicht mehr loslassen. Dies ist unser Moment, wir werden ihn festhalten.