"Wir können es selbst" Die Anwältin Razan Zeitouneh muss sich verstecken, das syrische Reg
Die ZEIT: Razan Zeitouneh, Sie sind in Damaskus eine angesehene Anwältin für Menschenrechtsfragen. Und doch werden Sie vom syrischen Geheimdienst gesucht. Warum?
Razan Zeitouneh: Die Fahndungsliste der Staatssicherheit ist derzeit lang: Viele meiner Freunde wurden bereits verhaftet oder verstecken sich wie ich. Das Regime verhaftet Aktivisten, aber auch gewöhnliche, unpolitische Menschen. Viele werden gefoltert, um ihre Seelen zu brechen. Die »gewöhnlichen« Häftlinge werden wieder freigelassen, damit sie von ihrem Schicksal erzählen und so Angst verbreiten können. Jene, die eine führende Rolle bei den Protesten haben, bleiben in Haft.
Die ZEIT: Seit wann verstecken Sie sich?
Zeitouneh: Ich bin am 23. März untergetaucht, nach dem Massaker in der Al-Omari-Moschee in Daraa. Regimetruppen haben die Moschee, in die sich die Demonstranten zurückgezogen hatten, umstellt und mit Waffen attackiert. Ich habe an jenem Tag Informationen aus Daraa an internationale Medien weitergeleitet. Daraufhin diffamierte mich das syrische Staatsfernsehen als Agentin des Auslands. Da wusste ich, dass sie mich holen würden. Ich habe die nötigsten Dinge zusammengerafft und meine Wohnung verlassen.
Die ZEIT: Wird Ihre Familie ebenfalls bedroht?
Zeitouneh: Etwa vor einer Woche tauchten Geheimdienstoffiziere am Arbeitsplatz meines Mannes auf. Sie wollten ihn verhaften, aber durch einen glücklichen Zufall war er gerade nicht da. Seither versteckt er sich ebenfalls. Vor ein paar Tagen dann sind Sicherheitskräfte gewaltsam in unsere Wohnung eingedrungen. Leider war mein Schwager da, der 20-jährige Abdulrahman, und sie haben ihn anstelle meines Mannes mitgenommen. Seither haben wir nichts von ihm gehört.
Die ZEIT: Sie sind im eigenen Land auf der Flucht. Wie bewältigen Sie den Alltag?
Zeitouneh: Ich gehe nur für notwendige Dinge raus. Einmal allerdings konnte ich nicht widerstehen und bin zu einer Demo in Douma gefahren, in der Nähe von Damaskus. Ich verstecke mich ja, um mit meiner Arbeit weiterzumachen, nicht um aufzugeben.
Die ZEIT: Wie gelangen Sie in Ihrem Versteck an Informationen über die Ereignisse im Land?
Zeitouneh: Ich arbeite seit vielen Jahren als Anwältin, habe viele politische Gefangene verteidigt. Dadurch habe ich ein gutes Netzwerk im ganzen Land.
Die ZEIT: Am dramatischsten scheint die Situation in Daraa, wo die Proteste begannen.
Zeitouneh: Die Lage in Daraa ist verheerend. Nachdem die Stadt bombardiert und beschossen wurde, wird sie seit Tagen von den Sicherheitskräften abgeriegelt. Es gibt keinen Strom, kein Trinkwasser, die Wassertanks auf den Häusern wurden gezielt beschossen und zerstört. Es gibt kaum noch Lebensmittel, keine Milch für die Kinder. In den vergangenen Tagen wurden Hunderte verhaftet und im Fußballstadion der Stadt zusammengepfercht. In den Straßen liegen Leichen, weil die Sicherheitskräfte den Menschen nicht erlauben, ihre Toten zu beerdigen. Manche Toten wurden einfach auf Gemüsekarren abgeladen. Es ist eine Tragödie.
Die ZEIT: Warum dürfen die Bewohner von Daraa ihre Toten nicht begraben?
Zeitouneh: Angeblich will das Regime Beerdigungen verhindern, weil die fast immer in neue Proteste münden. Aber ehrlich gesagt, ich glaube, dass dies nur eine weitere Schikane ist, um die Menschen zu demütigen.
Die ZEIT: Von wie vielen Toten gehen Sie seit Beginn der Proteste in Syrien aus?
Zeitouneh: Wir schätzen, dass etwa 600 Zivilisten ums Leben gekommen sind. Aus Daraa fehlen uns allerdings noch immer viele Namen, diese Zahl ist also nur eine Annäherung. Unter den Toten sind auch Kinder, die von den Sicherheitskräften »versehentlich« getötet wurden.
Die ZEIT: Trotz der Gefahr für Leib und Leben gehen die Menschen weiter auf die Straße.
Zeitouneh: Die Protestbewegung wächst jeden Tag. Die Menschen haben keine Angst mehr, nicht einmal vor Panzern und Gewehren. Das macht mich optimistisch, selbst wenn niemand so genau weiß, wie es weitergeht. Wissen Sie, anfangs waren die Syrer sicherlich von den Ereignissen in Tunesien und Ägypten inspiriert. Die Ursachen für die Proteste aber lagen tiefer. In den ersten Tagen skandierten die Menschen: »Das syrische Volk will in Würde leben.« Der Wunsch nach einem Leben frei von Demütigungen, die wir seit Jahrzehnten erleiden, war die treibende Kraft. Von außen betrachtet, ist es vielleicht schwer, zu verstehen, wie schmerzhaft es ist, Jahr um Jahr ohne Würde zu leben, nicht als Mensch, sondern nur als Untertan behandelt zu werden.
Die ZEIT: Aber ist es wirklich eine breite Protestbewegung?
Zeitouneh: Man kann sie sicher nicht mit Tunesien oder Ägypten vergleichen. Aber kein anderes arabisches Land hat einen Sicherheitsapparat, der dem syrischen vergleichbar wäre. Ich finde, mein Volk hat unglaublichen Mut bewiesen, angesichts dieser Übermacht auf die Straße zu gehen. Kummer bereitet uns das Bürgertum, die kaufmännische Mittelschicht. Viele Kaufleute haben Angst vor Veränderungen. In der Großstadt Aleppo ist es zum Beispiel, von ein paar kleinen Demonstrationen abgesehen, bislang ruhig geblieben.
Die ZEIT: Es gibt derzeit praktisch keine unabhängigen Journalisten in Syrien – was Gerüchte sprießen lässt. So beharrt das Regime darauf, dass Kräfte aus dem Ausland, zum Beispiel aus dem benachbarten Libanon, die Unruhen mit Geld und Waffen schüren. Können Sie sicher sein, dass es keine ausländische Einmischung gibt?
Zeitouneh: Das syrische Regime führt einen Krieg gegen das eigene Volk – mit Waffen und Medien. Wie wenig Substanz die Behauptungen haben, zeigt doch, dass sie sich täglich ändern: Mal soll der saudische Prinz Bandar Bin Sultan hinter den Protesten stecken, dann der amtierende libanesische Premierminister Saad Hariri, dann wieder der syrische Ex-Vizepräsident Chaddam zusammen mit Extremistengruppen, dann die Muslimbrüder... Nur das syrische Volk hat angeblich nichts damit zu tun.
Die ZEIT: Zunächst hielten viele Baschar al-Assad für einen zwar zögerlichen, aber willigen Reformer. Dieses Bild wurde zertrümmert. Kann der Präsident politisch überleben?
Zeitouneh: Es geht nicht nur um den Präsidenten, es geht um das System. Man kann ein Regime, das auf Korruption und Unterdrückung basiert, nicht wirklich reformieren. Egal, was das Regime nun tut, um zu überleben: Es kann vielleicht sein Ende hinauszögern, aber nicht verhindern.
Die ZEIT: Was kann der Westen tun, um mehr Blutvergießen in Syrien zu verhindern?
Zeitouneh: Die Syrer brauchen keine Intervention. Sie brauchen politischen Druck auf das Regime, damit die Gewalt gegen die Menschen aufhört. Wir Syrer haben den Glauben an uns selbst wiedergefunden. Wir können unsere Zukunft selbst in die Hand nehmen.